Das Schicksal

 

 

 

 

 

 

 

Wisse: Was an dir vorbei gegangen ist, sollte dir nicht passieren, und was mit dir passiert ist, sollte nicht an dir vorbeigehen….   (aus dem Koran)

 

 

 

            Im Jahre 1939  kam ein junges Mädchen mit einigen seiner Bekannten aus dem deutschen Dorf Marienberg im Wolgagebiet nach Turkmenien.

 

            Die Hauptstadt Aschchabad, eine wunderliche, freundliche, ausreichend satte Stadt, nahm das Mädchen, das schon bittere Lebenserfahrungen mit einer Stiefmutter hatte, wie eine eigene Tochter auf.

 

            Nach den Kinderjahren in der deutschen Kolonie erstaunte die neue internationale Umgebung anfangs das Mädchen außerordentlich, aber dann wurde sie bald zur Norm ihres Lebens.

 

            Turkmenen, Perser, Tataren, Usbeken, Ukrainer, Polen, Russen, Juden lebten nach ein und denselben Regeln ihres sozialistischen Staates. Ihre Sitten und Gebräuche wurden leicht voneinander übernommen, über die Essgewohnheiten, den Verkehr miteinander. Somit entstand ein einzigartiges Konglomerat.

 

            In einer solchen Umgebung fiel auch das Erlernen der neuen Sprache, des Russischen, nicht schwer. Niemand lachte über die Aussprache, eine unrichtige Grammatik oder falsche Betonung. Jeder eignete sich auf seinem einfachen Niveau im Umgang diese „große und mächtige“ Sprache an. Gerade damals  fanden so viele Sprichwörter der verschiedenen Völker Eingang in das Leben des Mädchens, die dann ihr ganzes Leben aus ihrer Rede wie Erbsen herauspurzelten….

 

            Das Leben vor dem Krieg, mit seinen uns nur aus den Geschichtsbüchern bekannten Losungen wurde für sie mit jedem Tag interessanter. Das Volk lebte und arbeitete für eine helle Zukunft und glaubte an die Regierung und die Partei, die klar bestimmten, wer ein Feind war und wer nicht. Der ausgebrochene Krieg mit seinem Elend brachte alle einander noch näher.

 

            Unsere Bekannte und die anderen aus ihrem Dorf, die nicht in das Wolgagebiet zurückgekehrt waren, wurden vom Schicksal von der ungeheuerlichen Deportation ihrer Landsleute nach Sibirien, von den Greueln und Nöten des Lebens in den für die russischen Deutschen geschaffenen Arbeitslagern verschont.

 

            Es muss gesagt werden: Bei dem allgemeinen Hass gegen die Faschisten, gegen die Deutschen, hatte unsere Heldin nicht sehr viel persönlichen Hass zu spüren. Natürlich gab es die Aufsicht, aber in dem weit entlegenen Turkmenien war alles nicht so erniedrigend und hart wie an anderen Orten.

 

            Ihr Mann, ein Deutscher, wurde in die Arbeitsarmee einberufen. Bald darauf verlor die junge Frau durch einen Unfall ihr Kind: In der Krippe wurde vertuscht, dass das Kind infolge mangelhafter Aufsicht von einem Treppchen gefallen war. Der Kummer, die Angst um das Schicksal ihrer Angehörigen, die bedrückenden Frontnachrichten, die wachsende Verzweiflung schmiedeten ihre Seele in einen Panzer, der für viele Jahre die Grenzen ihrer inneren Verschlossenheit  bestimmte. Aber auch nach außen – die Lage trug dazu bei, dass die Leute sogar vor ihren eigenen Gedanken Angst hatten. Das Leben war schwer, aber der Krieg lag hinter ihnen.

 

            Der lang ersehnte Sieg hatten die Hoffnungen wieder aufleben lassen, das normale Leben kehrte zurück. Nicht zurück kehrte jedoch der Ehemann, umgekommen in den Lagern, wie so viele Deutsche, die als Feinde im eigenen Staat gegolten hatten. Aber das Leben ging weiter. Wieder wurde ein Sohn geboren. Die dreißigjährige Frau erinnerte schon nicht mehr an das einstige Mädchen, das von dem unbekannten Stadtleben erschreckt worden war.

 

Sie sprach recht gut Russisch, obwohl sie die Rechtschreibung noch nicht bewältigt hatte.

 

Alles kam allmählich ins Lot.

 

            Nichts kündigte das Unheil an. Das südliche Klima bescherte einen samtweichen Herbst, der den wie gewohnt heißen Sommer abgelöst hatte. Und plötzlich bäumte sich die Erde auf. Der erste Stoß des Erdbebens spaltete die Häuser als seien es Nüsse. Schon der zweite Stoß zerstörte alles und machte es zu Schutt. Die heil gebliebenen Gebäude in der Stadt konnte man an den Fingern abzählen.

 

            Zehntausende Bewohner waren nicht mehr am Leben.

 

            Unserer Heldin konnte geholfen werden – sie wurde unter den Trümmern ausgegraben, aber ohne ihren Sohn.

 

            Wieviel kann ein Mutterherz aushalten ? Die Keime des Glaubens, die sich unter dem totalitären Atheismus nicht entfalten konnten, haben sie halten können und nicht zugelassen, in bodenloser Verzweiflung zu versinken.

 

            Wieder musste das Leben von Neuem begonnen werden. Das neue Unglück schweißte die Menschen noch mehr zusammen. Das ganze Land half, die zerstörte Stadt wieder aufzubauen. Das nationale Selbstbewusstsein, das sich heute bei den Nationalisten aller Schattierungen trennend auswirkt, war damals ein allgemein menschliches. Und die, die diese Katastrophe überlebten, haben die Stafette weitergetragen und wurden Kosmopoliten, die erkannt haben, dass die gemeinsamen Interessen und Werte der Menschen höher stehen als die Interessen einer einzelnen Nation.

 

            Nach drei Jahren bekam unsere Bekannte eine Tochter. Als sie heranwuchs, merkte sie, mit welchem Akzent ihre Eltern sprachen. Trotzdem sie in Geschichte des Staates beste Zensuren hatte,  hatte sie keinen Begriff davon, durch welche Feuerschlünde das Schicksal ihre Angehörigen geführt hatte, und was ihr Schweigen verbarg. Es vergingen noch viele Jahre, bevor sie verstand, warum sich ihre Eltern in den letzten Dezembertagen so für ihre Begriffe ungewöhnlich verhielten: Eine innere Freude in Erwartung von etwas Ungewöhnlichem. Die Freude stammte aus ihrer Kindheit, war tief in ihrer Seele versteckt.

 

            Viel später bestimmte das Schicksal, dass die Tochter sich Jahrzehnte lang mit der Erforschung von Vorboten von Erdbeben beschäftigen würde.

 

            Was ist das, ein Erdbeben ?  Eine Strafe ?  Ein unsinniges Wirken der Natur  ?

 

            Aschchabad lässt sich  nicht vergleichen mit den biblischen Städten Sodom, Gomorrha und Babylon, die für ihre Sünden bestraft wurden.

 

            Der Atheismus erklärte bequem alles nur mit der gestiegenen seismischen Aktivität.

 

            Aber in unserer Welt kann es keine Folgen ohne Ursachen geben. Die Statistik aller Erdbeben bestätigt :  Es geht nicht nur um die Spannungen der Schichten der Erdkruste, ihre Verformung. Etwas wird hineingetragen durch die Verhältnisse im Sozium, stört die Bilanz der Harmonie des Menschen und der Natur.

 

            Wir können die Werke Gottes nicht verstehen, geschweige darüber urteilen.

 

Wir durchleben die Ereignisse und ziehen daraus Schlüsse. Aber wenn es keinen Glauben gibt, so durchleben wir das Leben in der vom Schöpfer geschaffenen Welt, eine solche Existenz ist unsagbar schwer.